MandysNotizBlog

Peinlichkeit beginnt im Kopf – im Eigenen

Hallo meine Lieben.
Meine Leben, aber vor allem meine Kindheit, wären sehr viel leichter gelaufen, hätte ich diesen Spruch damals schon gekannt und auch verstanden.

Was sind Peinlichkeiten? Die Pein. Etwas, was jemandem großes körperliches oder seelisches Unbehagen verschafft (Definitionen von Oxford Languages). Eine Qual. Heute ist das alles, was uns umgangssprachlich unangenehm ist und uns in Verlegenheit bringt. Eine Reihe von geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen widmen sich der Erforschung und Deutung des Schamgefühles.

So weit will ich aber gar nicht ausholen. Ihr kennt mich, ich erzähle einfach nur gern aus meinem Alltag, was ich beobachte und auch selbst lerne. Und der Satz: ‚Peinlichkeit beginnt im eigenen Kopf‘ habe ich von meinem Chef aufgeschnappt und schnell auf eine in Reichweite liegende Serviette gekritzelt. Weil darin einfach so viel Wahrheit liegt.

Stöbern in der eigenen ‚Schambibliothek‘

Jeder Mensch hat abhängig von Alter, Geschlecht, Charakter und aktueller Lebenssituation seine eigene ‚Schambibliothek‘.

Die erste Peinlichkeit, an die ich mich erinnern kann? Auf dem Schulhof. Ich hatte kein Jo-Jo. Ich fand sie auch doof. ABER, da ich einer Clique angehörte, in der man eines haben musste, war ich schnell eine Außenseiterin.
Unfassbar, ausgestochen von einem Jo-Jo.
Heute fasst man sich an den Kopf. Kinderprobleme. Damals war es für mich aber elementar dazu zu gehören. Es war mir auf einmal peinlich, dass ich keines hatte und das, obwohl ich sie doch eigentlich doof fand. Weil mir auch die anderen das Gefühl gaben, das ich dadurch weniger wert wäre.
Und so ist es ja mit vielen Dingen. Du hast keine Markenklamotten? Kein Handy? Keine cooles Fahrrad? Kein Tattoo? Kein Piercing? Keinen Freund? Du bist ja peinlich . . .

Körperliche Reaktionen auf Schamgefühl und Peinlichkeit sind Pulserhöhung, Schweißausbrüche, Herzklopfen, (Schames-) Röte. Und damit wird es öffentlich.

Körperscham

Die Peinlichkeit mit der ich tagtäglich konfrontiert werde ist die Körperscham.
Zu meinem aktuellen Aufgabenfeld gehört die Ganzkörperuntersuchung, die GU. Da wir uns direkt nach dem Aufstehen anziehen, sind wir es gewohnt, uns zu bedecken. Meist mit Kleidung.

Diese muss bei der GU abgelegt weren.
Selbstzweifel am Körper sind mir bestens bekannt. Die Gesellschaft hat lange genug dafür gesorgt, dass sie tief in mir verankert sind und kein Psychologe eine Schaufel hat, die auch nur annäherungsweise an die Wurzel dieses Problems heran kommen könnte.

Deshalb bitte ich den Patienten erst den Oberkörper, später dann den Unterkörper frei zu machen.
Es beginnt beim Alter. Habe ich eine junge Frau vor mir stehen, ist das Schamgefühl fast greifbar. Mit dem Ablegen jedes weiteren Kleidungsstückes (im Winter so einige) spürt man eine steigende Anspannung im Raum.

Ich versuche keinen Körper zu beurteilen bzw. zu verurteilen. Natürlich gehen mir Gedanken durch den Kopf wie: ‚Wie viel Sport sie dafür wohl machen muss?‘ Und ich frage einfach. Schließlich ein wichtiger medizinischer Aspekt. Und weil es auch ein Kompliment ist, sag ich das auch gern. Das Verrückte – auch bei diesem Kompliment fühlen sich viele peinlich berührt – und relativieren es. WARUM? Wer sich raus zum Sport quält, darf auch Komplimente bekommen. Punkt.

Aber wenn ich einen Bauch abtaste, achte ich nicht darauf, ob er über die Hose hängt.

Das Gewicht ist natürlich (ge)wichtig. Gerade für viele Erkrankungen. Die Patienten wissen dies aber. Es ist nicht so, als hätten sie keinen Spiegel und keine Waage zu Hause.
„Sie sind zu dick.“
„Wirklich? Du meine Güte. Hätten Sie es mir nicht gesagt, ich wüsste es nicht.“

Das Körperideal, das die Gesellschaft vorgibt ist momentan im Wandel, gibt aber im Grunde klar vor: Fett ist hässlich. Es sei denn, es ist an den richtigen Stellen: Lippen, Hintern. Aber bitte nicht am Bauch und nicht an den Oberschenkeln.

NORMAL

Ich werde euch jetzt aber etwas sagen. Etwas, was euch umhauen könnte. Es ist NORMAL. Vollkommen NORMAL, nicht dem Ideal zu entsprechen. 99% aller Menschen, die ich untersuche, sind nicht perfekt.

Heute hatte ich eine ältere Dame. Sie war nicht zur GU da, sondern weil sie gestürzt war. Untersuchen musste ich sie trotzdem, ohne Oberteil. Sie schälte sich aus ihrem Pullover, aus ihrem Shirt, aus ihrem Top und einem weiteren Hemdchen.
„Herrje, sind Sie irgendwo darunter? Lassen Sie ruhig den BH an. Das Abhören geht auch so.“
Ihr BH sah toll aus. Mit Spitze, in rot und schwarz. Ich hab selbst so etwas im Schrank, auch wenn ich nicht mehr rein passe, aufgehoben aus Sentimentalität. Und weil`s teuer war.

Nur weil man grau wird, vergeht die Erotik nicht!

Sie sah an sich herab und dann zu mir. Und sagte: „Ich war mal ein richtig heißer Feger. Und heute hängen mir die Brüste bis in die Schuhe.“
Ich musste lachen. Und zwar so herzlich, dass sie mit lachte. „Ich zieh mich immer noch gern schick an. Mein Mann hat die Unterwäsche geliebt.“ Er war nun im Altenheim und sie besuchte ihn jeden zweiten Tag mit vorherigen Corona-Schnelltest, den das Altenheim anbietet.

Sie war in der Nacht gestürzt als sie im Dunkeln auf Toilette ging. Am nächsten Tag war sie bei ihrem Mann, nicht beim Arzt und das obwohl sie eine Kopfplatzwunde hatte. Die Blutergüsse in der Farbe ihrer Unterwäsche.
Es war alles in Ordnung mit ihr.

Selbstliebe. Das Ablegen von Selbstzweifel. Vielleicht eines der größten Dinge, die wir heute erlangen können? Was nützt mir Geld, wenn ich an mir zweifle? Was nützt Ansehen, wenn ich nicht den Spiegel gucken kann?

Geschlechter

Etwas anderes sind Geschlechter. Männlich. Weiblich. Divers.
Klingt einfach. Ist es aber überhaupt nicht. Aufgeklärt wurde ich durch ein Buch, das ich bei meiner großen Schwester gefunden hatte. Aus heutiger Sicht finde ich es gut gemacht. Damals las ich es heimlich, unter einer Decke mit Taschenlampe, mit Augen groß wie Wagenräder. Ich war meinen Eltern zuvor gekommen.
Obwohl ich glaube, dass dies ein Thema ist, das Eltern schwer fällt. Vermutlich, weil ihnen selbst ’nur‘ ein Buch an die Hand gegeben wurde?
Unsere Gesellschaft ist heute so aufgeklärt und trotzdem scheuen wir uns davor, Worte wie Vagina, Scheide oder Penis in den Mund (sorry, blöde Wortwahl) zu nehmen. In den besten Fällen macht Sex Spaß. Und das ist nun mal das ‚Werkzeug‘ dazu. Warum nicht darüber reden?

Let’s talk about sex

Lasst uns offen sein. Let`s talk about . . . sex. Das erste Mal, dass ich offen über Sex redete, war während des Studium. Nein, keine Vorlesung. Ich war schon lange Krankenschwester. Wusste wie es funktionierte. Schwieg mich aber, wie jeder andere auch, darüber aus. Natürlich, es gehört nicht in die Öffentlichkeit. Der Chef gibt beim morgendlichen Meeting auch nicht zum Besten, wie er es gerne hat.

Ich befand mich unter Kommilitoninnen, Freundinnen. Die ‚kleine Abendrunde‘ wurde von einer schwedischen Freundin abgehalten, die mich am Anfang des Studiums mit den Worten: „Fika?“ begrüßte. Ja, sie wollte wirklich Fika, Kaffeetrinken gehen!
Wir waren ungefähr 7 Mädels. Es kam Sekt und gutes Essen auf den Tisch und die Musik war klasse. Gegen 20 Uhr kam dann eine weitere Freundin, mit Spielzeug. Mit Sexspielzeug. HIMMEL! Wo war ich hier gelandet?

Die ausgelassene Stimmung tat aber ihr übriges. Da merkte ich wohl zum ersten Mal, das es ganz natürlich ist. Sex zu haben ist normal. Darüber zu reden auch. Und so viele machen es. Jetzt gerade wohl um die 65 Tausend, weltweit. Wenn du das liest, gehörst du vermutlich nicht dazu.

A . . . löcher

Neulich sagte jemand zu mir, dass er eine Darmspiegelung nicht machen lässt. Er lasse sich nicht im Hintern herum stochern. Von der Wortwahl mal abgesehen – eine Darmspiegelung ist eine (Vorsorge-) Untersuchung, die ab einem bestimmten Alter unbedingt wahrgenommen werden sollte und wird von einem Team durchgeführt, dass diese Prozedur tagtäglich macht. Da achtet niemand auf rasiert/unrasiert, wie was aussieht . . . dieses Team sieht ihm Jahr so viele Hintern, Pupslöcher und auch Kacke (und das, bevor sie raus kommt), dass sich niemand von ihnen noch ein Urteil über solche Nichtigkeiten wie After macht.

Das eigene Hinterteil ist eine heikle Angelegenheit. Na, ist die Kacke am Dampfen? Jeder hat eines, so viele finden es unsexy. Es kommen ‚furchtbare‘ Dinge wie Exkremente daraus. Hintern hängen, sie stehen, sind faltig oder zum Nüsse drauf knacken. Und ‚DAS LOCH‘ gehört nun mal da hin. Wo soll es sonst raus kommen?

Geschlechtskrankheiten

Puuhhhhh. Stickige Stimmung kommt auf.
Oh bitte. HIV? Aids? Ja, genau. Aber auch Syphilis.
Übrigens wieder auf dem Vormarsch, beides, vor allem in den Großstädten.
Peinlichkeit beginnt im eigenen Kopf.

Wir haben Sex. Natürlich können wir uns anstecken. Darüber reden. Am besten davor schützen.

Durch die Hausarztpraxis wurde ich auf etwas aufmerksam gemacht. Jemand, der gern Sex hat, auch mit Fremden, kann sich durch spezielle Tabletten-Kombis und regelmäßige Check-ups, die man beim Hausarzt bekommt, vor Geschlechtskrankheiten schützen. Ich glaube, das wissen nicht viele. Weil ich befürchte, dass auch nicht viele mit ihrem Arzt darüber sprechen. Dafür ist und sollte er aber da sein.

Geschlechtskrankheiten sind heute immer noch ein strittiges Thema. Warum? Weil es zeigt, dass jemand mit vielen unterschiedlichen Leuten Sex hat? Was ist daran verwerflich? Warum sollte jemand, der sich nicht auf Monogamie versteht, Sexhunger darben? Umso großartiger, wenn sich jemand dafür entscheidet, sich und andere zu schützen.

Let`s talk about sex . . . und Geschlechtskrankheiten

Syphilis, die ‚Lustseuche‘, hervor gerufen durch ein kleines Bakterium, hat vielfältige Gesichter. Früher gern auch mal tödlich, heute so gut durch Antibiotika behandelbar.
HIV. Ich erschrak, dass es immer noch so viele Menschen gibt, die so wenig darüber wissen. Das es, wenn man sich angesteckt hat, heute Medikamente gibt, die ein normales Leben und auch eine normale Lebenserwartung ermöglichen, wissen nur wenige. Noch weniger, dass man sich bereits vor einer Ansteckung schützen kann. Mit Kondomen und/oder mit einer Tabletten-Kombi.

Reden ist Palladium

Bakterien sind klein. Aus den Augen, aus dem Sinn? Wohl kaum. Einfach weil dieses Thema immer noch mit so viel Scham, so viel Peinlichkeit behaftet ist. Let`s talk . . . mit deinem Hausarzt.

Reden ist Silber. Schweigen ist Gold? So ein Blödsinn.

Reden ist Palladium. Eines der wertvollsten, für uns Otto-Normalverbraucher erschwinglichen, Elemente auf der Erde. Man sollte weniger Schweigen. Es bringt einen selten weiter.

Redet. Über eure Fehler. Über euch. Was ihr liebt. Was ihr euch wünscht. Eure Sorgen. Eurer Verlangen. Denn es ist normal.

Let`s talk about . . . everything! Denn Peinlichkeit beginnt im Kopf. Im Eigenen.

Bleibt gesund. Eure Mandy

7 Kommentare

  1. Zitat: „Darüber zu reden. Am besten davor schützt.“
    Das Yoda-Deutsch vom Feinsten ist! 😃 Aber mal im Ernst, wieder ganz toll geschrieben und sehr wichtig, darüber zu reden. Sozusagen, darüber zu reden, worüber man nicht reden will.

  2. Liebe Mandy, wieder einmal toll auf den Punkt gebracht. Mein Mann ist 1965 geboren, ich 1975. Als ich als kleine Jungfrau mit immerhin schon 18 Lebensjahren auf dem „Buckel“ zu ihm kam, habe ich ihm oft einen roten Kopf bereitet. Ich wollte ALLES über Sex wissen, was kann man machen, muss man es machen, hat er es schon gemacht, wie hat er bisher geliebt usw.. Der Gute war vollkommen irritiert. Mit 1930er Eltern sprach man nicht darüber, die Ex sprach ebenfalls nicht und jetzt kam ich Püppi und wollte alles wissen. Aus heutiger Sicht mit fast 24-jährigen Zwillingssöhnen kann ich sagen, es ist gut darüber zu reden, keine Mauer der Peinlichkeit darum aufzubauen. Unsere Lumpis konnten uns jederzeit fragen und bekamen dazu Antworten. Es ist und bleibt nunmal oft die schönste Nebensache der Welt. Lets talk about … 😊😉🤘👏

  3. Hi
    Ich lese deine Texte immer wieder gerne
    Wir sind Swinger und natürlich verhüten wir mit Kondomen und gehen regelmäßig zur Vorsorge.
    Aber von einer Tabletten Kombi habe ich noch nie gehört.
    Kannst du dazu etwas genauer werden?
    LG, Moni

  4. Was ist mit Selbstbefriedigung? Onanie bei Männern, gibt es überhaupt ein Wort bei Frauen? Ich lerne erst langsam über Dildos, was das ist. Bin eine Frau und 1956 geboren. Sehr schambesetztes Thema. Aufklärung durch Eltern? Fehlanzeige. Mit 11 von erster Periode völlig überrascht. Fragte mich, wo und wie ich mich verletzt haben könnte. Mit meinem Mann, Jahrgang 1955, rede ich schon längst nicht über Sex. Ist wohl ähnlich aufgewachsen wie ich, denke ich. Denn reden tun wir darüber nicht.

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