Mein mir immer-mit-1000-Sachen-im-Kopf-vorgesetzter-Assistenzarzt bat mich, die für diese Woche bei uns eingeteilten zwei Studenten ‚an die Hand zu nehmen‘ und die wichtigsten Basics zu zeigen, bis er ein paar freie Minuten hat. Es ist vollkommen normal, dass sich weiter ausgebildete Studenten um die Studis kümmern, die neu auf Station eingesetzt sind.
Frisch aus dem 1. Staatsexamen kamen sie am ersten Tag mit wehendem Statussymbol ‚Kittel‘, glänzenden Augen und glühender Motivation über Station gelaufen. So fühlte ich mich damals auch, bis ich merkte, dass ‚DER KITTEL‘ so oft im Weg ist, dass es kaum Sinn macht, ihn anzuziehen; Blutflecken unheimlich schwer raus zu bekommen sind und er auch bei Wärme und gelegentlich auch Hitze nicht angenehm zu tragen ist. Also hatte ich meinen letzten Kittelmoment kurz nach dem ersten Staatsexamen.
Die erste Aufgabe für meine ‚kleinen Frischlinge‘ war eine mir bekannte Patientin für eine Anamnese, eine Aufnahmegespräch. Meiner Empfindung nach eine der Königsklassen unter dem Arztberuf. Wer nicht gut in ein Patientengespräch findet, dem bleiben wichtige Informationen vorenthalten, die zur Lösung oder Aufklärung der Erkrankung beitragen könnten. Dabei ist es bei jedem neuen Patient ein Suchspiel, wie man durch die richtige Gesprächstechnik, an die kostbaren Infos kommt.
Die Beiden waren sichtlich enttäuscht: Kein spritzendes Blut, kein Drama à la Grey‘ s Anatomy. Das wollte ich auf keinen Fall. Genau diese Motivation müssen sie sich doch bis in den Beruf behalten.
Im Zimmer legten sie los und waren nach 5 Minuten fertig. Die schnellste Anamnese der Welt. Und die wichtigsten Fragen: unbeantwortet.
Man hat so viele Blockaden im Kopf, die man selbst überwinden muss: ‚Ich kann doch den Patienten nicht fragen, wann er das letzte Mal gekackt hat!‘ Doch, genau das, nur anders formuliert. Gerade solche Kopf-Blockaden führen dazu, dass Erkrankungen zu spät erkannt werden könnten. Genauso wie die berüchtigte ‚Sex-Frage‘. Meine Frischlinge lachten. ‚Die hat doch kein Sex mehr.‘ DIE Patientin, 78 Jahre jung, eine der wohl liebsten Menschen auf diesem Planeten mit einem Herz aus Gold, hat aber ein Sexleben. Und was für eines. Aber das können die beiden ja nicht wissen, da sie nicht gefragt haben.
Wir also nochmal ins Zimmer rein. ‚Haben Sie etwa noch Sex?‘
Okay, mit der Abrissbirne geht’s auch. Die Patientin und ich lachten. Ja, man kann sehr viel sensibler fragen. Aber sie kamen an ihr Ziel: Die Patientin hat seit dem Tod ihr Ehemannes, der sie eher an der kurzen Leine hielt, dank dem Internet einen aufregenden zweiten Frühling in ihrem Leben. Durch die wechselnden Geschlechtspartner hat sie sich aber eine Geschlechtserkrankung eingefangen, bei deren Untersuchung als Zufallsbefund eine Krebserkrankung heraus kam.
Vor dem Zimmer meinte dann einer der kleinen Frischlinge, das sie Sex-im-Alter schon sehr komisch findet. Der eigentliche Wortlaut war annähernd: ‚Echt eklig.‘
Da hielt ich doch ein Gespräch unter Studenten für notwendig. So oder der erste Assistenzarzt dreht sie für solche Äußerungen durch den Fleischwolf – zu Recht.
Wir werden Ärzte. Unsere Aufgabe wird es sein, zu Erforschen, Herauszufinden, die richtige Entscheidung für Patienten zu finden, weil sie es selbst nicht können. Sie vertrauen sich uns an. Wir Beurteilen, anstatt Verurteilen.
Die Studentin sagte dann, dass sie eh‘ in die Forschung will, sie kann nicht gut mit Patienten. Meine Antwort, dass ich es gut finde, dass sie schon weiß, wo sie hin will. Dass sie aber für die Zeit des Studiums mit fremden Menschen, die ihre Patienten sein werden, zu tun haben wird und sie deshalb an ihrer Gesprächstechnik arbeiten muss.
Was nehmen wir uns heraus, über jemanden Lebensstil zu urteilen? Und wenn sie Orthopäde wird und ein Hunderjähriger mit kaputter Hüfte zu ihr kommt, mit dem Wunsch, damit auch wieder Sex haben zu können, dann wird es ihr Aufgabe sein, das Beste zu tun, damit er genau das wieder kann.
Am nächsten Tag stellten sie sich schon weitaus besser an. Das ist alles erlernbar. Und schließlich haben wir alle mal ganz vorn angefangen.
Sex-im-Alter, schade, dass es diese Bezeichnung dafür geben muss. Wir sagen ja auch nicht Sex-in-der-Jugend. Während es da noch ums Ausprobieren geht, jagt man später nicht mehr jedem Organismus hinter her. Die besagte Patientin und ich hatten ein sehr viel längeres Aufnahmegespräch, in dem sie mir erzählte, wie allein sie sich gefühlt habe, nachdem ihr Mann starb. Und das, obwohl sie bei ihm so unter der Knute stand. Mit jemand anderes zusammen zu sein, war sehr erfüllend gewesen, dass sie dadurch wieder zu sich selbst gefunden hätte. Eine Anmerkung ihrerseits: ‚Die Ärzte von morgen werden aber auch immer jünger.‘
War ich froh, dass sie nicht mit bekommen hat, was nach dem Gespräch noch passiert war.
Ein bisschen Lebenserfahrung und Älter Sein ist manchmal doch von Vorteil.
Bleibt gesund…. eure Mandy